„Wer es selbst nicht erlebt hat, kann nicht so gut unterstützen wie jemand, der weiß wie es sich anfühlt.“
„Ich habe selbst [hier entsprechende psychische Krankheit einfügen] und weiß, wovon ich spreche.“
„Was mir geholfen hat, hilft auch Dir.“
„Wenn Du nicht selbst betroffen bist weißt Du doch gar nicht wovon Du redest.“
Solche Aussagen begegnen uns stellenweise, wenn es um die Begleitung psychischer Erkrankungen und Krisen geht. Doch was ist wirklich dran an dieser Annahme?
Eigene Betroffenheit als Ressource
Fangen wir mit dem an, was eigene Betroffenheit von psychischen Erkrankungen an Vorteilen mit sich bringen kann.
- Empathie und Verständnis
Wer bestimmte Symptome und deren Auswirkungen selbst erlebt hat, kann oft leichter Verständnis aufbringen. Ähnliche Erfahrungen, vertraute Aussagen, bekannte Hürden – all das kann eine betroffene Fachperson in die methodische Waagschale werfen. Ein „Das kenne ich auch“- Gefühl, welches weniger Verbalisierung benötigt.
- Authentizität und Glaubwürdigkeit
Selbst erfahrene psychische Erkrankungen bei Berater:innen, Coaches, Mentor:innen und Psychotherapeut:innen können den Hilfesuchenden ein Gefühl von Authentizität und Glaubwürdigkeit geben. Im Zuge einer tragfähigen Arbeitsbeziehung zwischen Klient:innen, Patient:innen und Helfenden kann durch eigene Betroffenheit ein Gefühl der Augenhöhe entstehen. Statt „von oben herab“ und das Gefühl der Belehrung kann so ein gleichförmigeres partnerschaftliches Miteinander entstehen. Nicht aus Büchern zu sprechen, sondern aus eigener Erfahrung heraus kann sich zudem nach Validierung des eigenen Erlebens anfühlen.
- Lernen am Modell
„Er/Sie hat das auch erlebt und hat es geschafft rauszukommen“ kann ein Gedanke sein, den Betroffene haben können, wenn Behandelnde oder unterstützende Personen ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Lernen am Modell, der/die Helfende als Vorbildfunktion, die Mut machen kann. Wenn er oder sie es geschafft hat, dann schaffe ich das auch – kann also hilfreich sein, vielleicht sogar bzgl. angewendeter Methoden und Vorgehensweisen.
All diese Aspekte können zu Vertrauen und einem Gefühl der Verbundenheit bei den Hilfesuchenden führen, was wiederum Sicherheit vermitteln kann. Wichtige Aspekte, ebenso wie ein Gefühl der Validierung und des verstanden Werdens.
Wo eigene Betroffenheit problematisch werden kann
Wie alles im Leben hat auch eigene Betroffenheit von psychischen Erkrankungen nicht nur Vorteile, wenn diese die Hauptqualifikation darstellt. Schwierig kann dieser Faktor in folgenden Punkten werden:
- Überidentifikation und Projektion
Das, was hilfreich sein kann, nämlich Identifikation mit dem/der beratenden, helfenden, behandelnden Person kann wiederum auch problematisch werden. Zu viel Identifikation mit dem Erleben und (unbewusste unerkannte) Projektionen, können einer erfolgreichen Behandlung oder Begleitung im Weg stehen, sie sogar ins Gegenteil verkehren. Wahrnehmungsverzerrungen auf beiden Seiten, unangemessenes Verhalten (z. B. Rettungsmodus oder zu viel/zu wenig Distanz) oder emotionale Belastungen beider Seiten können die Folge sein.
- Verlust professioneller Distanz
Berührt etwas die eigene Geschichte, kann dies zu einem Verlust der eigenen professionellen Distanz führen. Diese kann aber ein entscheidendes Element erfolgreicher Begleitungen sein. Sie stellt bspw. Mitgefühl statt Mitleid sicher, sorgt für notwendige Abgrenzung, macht die Betrachtung von Metaebenen möglich und sorgt für professionelle Balance innerhalb der Zusammenarbeit, die z. B. keine Freundschaft sein soll.
- Übertragung eigener Lösungen auf andere
Was der einen Person geholfen hat muss nicht auch der anderen Person helfen. Genau diese Erkenntnis ist ein wichtiger Faktor bei der Begleitung und Behandlung psychisch Erkrankter. Eigene Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen und Krisen können dazu führen selbst für hilfreich empfundene Aspekte und Methoden automatisch auf andere Betroffene zu übertragen. Auch dann, wenn es diesen nicht hilft oder sogar zu einer Verschlechterung des Zustandes führen kann.
- Achtung vor Retraumatisierung
Selbst Erlebtes sollte dringend soweit verarbeitet worden sein, dass keine Retraumatisierung stattfinden kann. Betroffene in unterstützenden, coachenden oder beratenden Positionen können sonst selbst der Gefahr einer solchen ausgesetzt sein.
- Fehlendes Fachwissen
Psychische Erkrankungen sind in den meisten Fällen ein komplexes Zusammenspiel vieler Faktoren. Diagnosen, Komorbiditäten, aufrechterhaltende Aspekte, wirksame Behandlungsmethoden – all das sind entscheidende Ebenen einer hilfreichen und fachkompetenten Begleitung. Eigene Betroffenheit kann dieses Wissen ergänzen, nicht jedoch ersetzen.
Eigene Betroffenheit als Garantie für Kompetenz?
Die kurze Antwort ist: Nein.
Auch die lange Antwort bleibt ein Nein – wenn auch differenzierter.
Professionelle Kompetenz entsteht durch mehr als eigene Betroffenheit, sowie eigene Betroffenheit nicht zwingend zu Fachkompetenz führt. Sie kann ein wertvoller Ausgangspunkt. Sie geht im besten Fall mit persönlicher Genesungskompetenz einher, ersetzt jedoch nicht automatisch notwendiges Fachwissen. Methodenwissen, theoretische Erklärungsmodelle für psychische Krankheiten und Belastungssituationen, Tools und Interventionen sind unabhängig von persönlicher Betroffenheit lernbar.
Selbstreflexion sowie regelmäßige Supervision und Intervision sind in professionellen Kontexten unerlässlich. Beispielsweise absolvieren Psychotherapeut:innen verpflichtende Selbsterfahrungen und Supervisionen, um eigene Themen zu erkennen und diese nicht unbeabsichtigt in die Therapie einzubringen.
Bei Personen, die rein aufgrund eigener Betroffenheit coachen oder beraten, fehlen diese strukturierten Reflexionsmechanismen oft – was Risiken birgt.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Individualität von Erfahrungen. Persönliche Erkrankungen sind keine Blaupause. Eine Depressionserkrankung von Person A kann ganz anders aussehen als die von Person B. Ein Trauma von Person A kann sich ganz anders auswirken als es das bei Person B tut, auch wenn das erlebte Ähnlichkeiten aufweist. Persönliche Erfahrung wird also nie alle Fälle abdecken.
Zudem: Empathie, Mitgefühl und Verständnis – oft als Vorteile eigener Betroffenheit genannt – sind keine exklusiven Eigenschaften Betroffener. Auch ohne persönliche Erfahrung können Fachpersonen diese Qualitäten entwickeln und einbringen.
Insight Lisa
2018 erkrankte ich selbst an einer Depression und begann mit einer Psychotherapie. Ich dachte damals, ich wüsste somit aus erster Hand wie man Menschen mit einer solchen Erkrankung dann behandeln würde. Weit gefehlt.
Mein Psychologiestudium zeigte mir sehr schnell und sehr deutlich: Ich war trotz meiner eigenen Erkrankungserfahrung ein absoluter Grünschnabel. Die Behandlung psychischer Krankheiten ist so viel mehr als ein Koffer voller Übungen. Diagnostik, Entstehungs- und Erklärungsmodelle, Interventionen, Erkennen komplexer Zusammenspiele verschiedener Symptome, Ursachen und Einflussfaktoren – All das lernte ich erst durch mein Studium.
Und auch jetzt, mit einem Master of Science Psychologie, bin ich noch keine ausgebildete Therapeutin. Auch jetzt noch fehlen mir Fachkompetenzen, damit ich mich sicher in der Behandlung psychischer Erkrankungen fühle. Ich erkannte also schnell, dass meine eigene Krankheitserfahrung genau das ist. MEINE ganz persönliche und eben sehr individuelle Erfahrung, die mich nicht automatisch zu einer guten Unterstützung werden ließ.
Zugleich schätze ich nicht nur meine persönliche Erfahrung, sondern auch in der Arbeit bei Erste Hilfe für die Psyche die Erfahrungen von Nora als betroffene du Angehörige. Die Mischung macht uns und unsere Kompetenz aus. Der trialogische Ansatz, der Fachkompetenz, persönliche Betroffenheit und die Rolle als Angehörige psychisch Erkrankter vereint, schafft genau das bunte und individuelle Potpourri, das unsere Arbeit einzigartig macht und von der nicht nur wir profitzieren, sondern vor allem die Menschen, mit denen wir arbeiten.
Werde ich also eine bessere Psychotherapeutin, weil ich eigene Erfahrungen mit Traumata, Depression und Psychotherapie habe? Nein, ich werde einfach nur anders sein als andere Psychotherapeut:innen. Ist Noras Arbeit als Peer Beraterin schlechter als meine Arbeit als Mentorin, weil ich studiert habe? Nein, sie ist einfach nur anders, hat einen anderen Fokus.
Bringen wir alle unsere Stärken ein und reflektieren wir ehrlich und kritisch unsere Schwächen, können wir gemeinsam das erschaffen, was es braucht: Hilfreiche, individuelle Unterstützung für Betroffene psychischer Krankheiten und Krisen. Ob mit oder ohne eigene Betroffenheit.
Fazit
Eigene Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen und Krisen können eine Bereicherung sein, eine Unterstützung und hilfreich für den Austausch. Sie können bei entsprechender Reflexion und bei bewusstem Einsatz als hilfreiches Werkzeug, verbindendes Element und zur Gestaltung der Arbeitsbeziehung sinnvoll genutzt werden.
Ebenso können Coaches, Berater:innen, Mentor:innen und Psychotherapeut:innen auch ohne persönliche Erfahrungen mit psychischer Krankheit x oder y fantastisch begleiten und behandeln.
Statt einer Abwertung des Einen oder des Anderen sollte der Fokus auf einem zielführenden und für Erkrankte und Betroffene hilfreichen Vorgehens liegen.