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Eine große Zahl.
Eine mächtig gewaltige Zahl.
Es ist die Zahl der Menschen, welche im Jahr 2023 durch Suizid verstarben.
Rund um dieses Thema schwebt leider noch oft ein Mantel des Schweigens. Dabei werden rund 80% der Suizidversuche zuvor angekündigt. Suizid(gedanken) sind ein Tabuthema, was unter anderem dazu beiträgt, dass sich Mythen hartnäckig halten. Ein paar davon wollen wir uns genauer anschauen.
Mythen rund um Suizide
- Jemanden auf mögliche Suizidgedanken anzusprechen bringt die Person erst auf die Idee es zu tun.
Dieser Mythos hält sich leider hartnäckig. Was stattdessen stimmt:
Suizidgedanken entstehen nicht durch die Worte anderer, sondern durch bereits vorhandene tiefgreifende psychische Belastungen, sei es durch eine psychische Erkrankung oder durch eine stark belastende Krisensituation. Suizidgedanken voraus geht eine bereits vorhandene Auseinandersetzung mit eigener Hoffnungslosigkeit und einem (hohen) Leidensdruck.
Weiterhin wirkt das offene und empathische Sprechen über Suizidgedanken oft erleichternd für Betroffene und entlastet. Hierdurch kann vermittelt werden, dass Betroffene gesehen und ernst genommen werden in ihrer Not und sie damit nicht alleine sind.
- Wer Suizidgedanken äußert tut es eh nicht und will bloß Aufmerksamkeit.
Suizidgedanken derart zu bagatellisieren kann fatale Folgen haben. Bedenkt man, dass Suizid nach wie vor ein Tabuthema ist, gehört einiges dazu sich hier jemandem anzuvertrauen. Wenn das also geschieht, sollten wir froh darüber sein und die Sache ernst nehmen. Die Äußerung solcher Gedanken zeigt eines: Da ist ein Mensch hoch belastet und benötigt dringend Hilfe. Diese muss nicht in Gänze von Dir übernommen werden, sondern kann auch von z. B. Psychotherapeut:innen stattfinden.
Und selbst wenn wir davon ausgehen, dass jemand Aufmerksamkeit benötigt, stellt sich die Frage: Ist das nicht ein klares Zeichen großer (innerer) Not, wenn zu solchen Aussagen gegriffen wird? Wenn Nähe, Mitgefühl, Verständnis so deutlich gebraucht werden, sollte dies nicht abgewertet oder ignoriert werden.
- Wer Suizid begehen will tut es sowieso und es lässt sich nicht verhindern.
Ein ebenfalls fataler Mythos, denn Suizidgedanken sind oft ambivalent. Betroffene können zwischen dem Wunsch nach Suizid und dem Wunsch nach einem Ende des Leidens an diesen belastenden Gedanken pendeln. Suizidgedanken sind idR. keine unumstößlichen Entschlüsse a la „Ich will nicht mehr leben“, sondern viel mehr ein „SO will ich nicht mehr leben“. Suizidgedanken bedeuten nicht automatisch eine Suizidabsicht (hierzu später noch ausführlicher).
Klar ist: Suizidprävention hilft! Entsprechende Unterstützung und Gespräche können Suizidgedanken nicht nur reduzieren, sie können diese auch gänzlich zum Verstummen bringen.
- Nur bestimmte Menschengruppen wie jüngere Leute sind gefährdet.
Ein trügerischer Mythos, denn Suizidalität ist keine Frage des Alters oder einer bestimmten Zielgruppe, sondern ein vielfältiges und komplexes Phänomen, das Menschen jeden Alters, Geschlechts und sozialer Herkunft betreffen kann.
Auch wenn häufiger Jugendliche in den Fokus rücken, sind auch ältere Menschen (insbesondere Männer ab 70) von hohen Suizidraten betroffen. Ebenso wie Menschen mittleren Alters, welche bspw. aufgrund beruflicher Krisen, Überforderungen oder Lebensumbrüchen Suizidgedanken entwickeln können.
Dieser Mythos verstellt somit den Blick auf vermeintlich stillere Risikofaktoren. Psychische Krisen und somit auch Suizidgedanken kennen keine Zielgruppe.
Was machen wir falsch?
Bauen wir diese besprochenen Mythen ab, ist schon viel geschafft. Was können wir noch tun bzw. was sollten wir unterlassen?
- Das Thema Suizid ignorieren und zu einem Tabuthemen machen
Stattdessen brich das Schweigen und sprich offen über das Thema, um das Tabu zu brechen und auch, um Betroffenen zu zeigen, dass sie nicht allein sind.
- Ratschläge geben a la „Denk positiv!“
Stattdessen zeige Mitgefühl, höre zu und zwar aktiv und bewerte nicht, auch nicht verharmlosend.
- Warnsignale übersehen
Rückzug, Hoffnungslosigkeit oder verändertes Verhalten können Warnsignale sein. Achte auf sie und nimm sie ernst.
- Professionelle Hilfe schlecht reden
Stattdessen ermutige zur Unterstützung durch fachlich ausgebildete Personen, je früher, desto besser.
- Stigmatisierende Sprache verwenden
Nutze respektvolle Sprache wie „Suizid“ statt „Selbstmord“, um Würde und Respekt zu wahren.
Jeder von uns kann seinen Teil zu Suizidprävention beitragen. Auch indem wir auf Frühwarnsignale achten.
Woran erkenne ich Suizidalität?
Vorab sei gesagt, dass die folgenden Aspekte Indikatoren sein können, nicht jedoch unumstößliche alleinige Merkmale für Suizidalität sein müssen. Je mehr der folgenden Signale erkennbar sind, desto wichtiger ist es allerdings betroffene Personen darauf anzusprechen und professionelle Hilfe einzubeziehen.
- Sozialer Rückzug
Menschen in suizidalen Krisen fühlen sich häufig alleine und isoliert, was zu einem noch stärkeren sozialen Rückzug führen kann. Sätze wie „Ich bin für niemanden wichtig“ oder Immer bin ich auf mich alleine gestellt“ können Anzeichen hierfür sein. Auch das Ausweichen vor körperlicher Nähe kann ein Anzeichen dieses Rückzuges darstellen.
- Aufräumen oder Verschenken von Dingen
Verschenkt jemand auf einmal sein Hab und Gut, auch Dinge, die dieser Person viel bedeuten, kann dies ein Anzeichen für einen Abschied vom eigenen Leben darstellen und somit ein Warnzeichen für Suizidgedanken darstellen.
- Abschied nehmen
Besuche oder Anrufe, sowie Nachrichten, in denen Äußerungen fallen, welche auf einen endgültigen Abschied hindeuten, das Aufsetzen eines Testamentes oder auch das Verfassen von Abschiedsbriefen können ebenfalls auf Suizidgedanken oder -absichten hindeuten.
- Beschäftigung mit dem Thema Tod und Sterben
Existenzelle Fragen wie die nach dem Tod und dem Sterben beschäftigen die meisten von uns im Laufe des Lebens und sind daher nicht per se sorgenvoll zu betrachten. Nimmt die Beschäftigung mit diesen Themen allerdings überhand, werden bspw. überproportional oft Filme, Bücher und Songs zu diesen Themen konsumiert oder Gedichte bzw. Texte auffallend oft zu diesen Themen verfasst, kann das auf Suizidgedanken hindeuten.
- Hoffnungslosigkeit
Diese kann z. B. auch als Symptom einer Depressionserkrankung auftreten. Sätze wie „es wird mir nie wieder besser gehen“ oder „Das ändert sich sowieso nie wieder“ können Ausdruck eines solchen Gefühls sein.
- Riskantes Verhalten
Manchmal schwer zu erkennen und doch ein möglicher Indikator kann vermehrtes risikobehaftetes Verhalten sein. Erhöhter Alkohol- oder Konsum anderer Drogen, gefährliche Freizeitaktivitäten oder unvorsichtiges, riskantes Autofahren können Beispiele sein.
- Große Selbstkritik, geringe Selbstachtung, starke Kränkung
Suizidgedanken können mit einem starken Empfinden eigener Wert- oder Nutzlosigkeit einhergehen und mit Scham und Schuldgefühlen verbunden sein. Betroffene äußern diese bspw. durch Aussagen wie „Ohne mich ginge es allen besser“ oder „Ich nütze ja sowieso niemandem etwas“.
- Plötzliche Ruhe und Gelöstheit
Tritt nach einer Phase großer Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit plötzlich Ruhe, Gelöstheit und Zufriedenheit auf, kann dies ein Zeichen für Suizidgedanken oder gar konkrete Suizidabsichten sein.
Hierzu noch eine wichtige Unterscheidung.
Suizidgedanken = Suizidabsicht?
Du hast ja bereits bei den Mythen gelesen, dass Suizidgedanken nicht automatisch mit einer Suizidabsicht einhergehen. Eine suizidale Krise durchläuft verschiedene Stadien. Suizidgedanken können daher nicht automatisch mit tatsächlichen Suizidabsichten gleichgesetzt werden.
Suizidgedanken sind zunächst erste Überlegungen oder Fantasien wie es wäre nicht mehr zu leben, meist entstehend aus dem Wunsch eigenem Leidensdruck zu entkommen. Sie sind zunächst Ausdruck einer inneren Überforderung, Leere und Hoffnungslosigkeit. Zugleich können sie vorübergehend sein und sind nicht zwangsläufig mit der Absicht nach Suizid verbunden.
Suizidabsichten wiederum gehen einher mit konkreten Vorstellungen und Plänen, wie ein Suizid vollzogen werden soll. Vorbereitungshandlungen finden statt und in diesem Stadium besteht akute Gefahr für Betroffene.
Egal in welchem Stadium sich Betroffene befinden: ernst zu nehmen sind beide.
Suizidprävention ist wichtig
All das zeigt uns: Wir müssen über Suizid(gedanken) sprechen und das Thema aus der Tabuzone holen. Ebenso sollten wir lernen Betroffene unterstützen zu können. Neben den hier im Blogbeitrag benannten ersten Schritten gibt es noch einiges mehr, was wir tun können.
Was genau?
Das zeigt Dir Nora am 17.07.2025 17:00 – 21:00 Uhr in unserem Online-Seminar Suizidprävention – erkennen, verstehen, handeln.
Dort lernst Du…
… die Rolle von Suizidalität in unserer Gesellschaft zu verstehen.
… sicherer im Umgang mit Menschen in suizidalen Krisen zu sein und zu wissen, wie Du Erste Hilfe leisten kannst.
… ein einfaches und effektives Kommunikationsmodell das Dich bei Gesprächen in Krisensituationen unterstützt.
Neben dem Live-Event mit Nora erhältst Du ein ausführliches Handout nach dem Seminar.
Weitere Infos bekommst Du hier: https://norafieling.my-ablefy.com/s/norafieling/seminarsuizidpraevention
Insight Nora
Seit meiner Grundschulzeit kenne ich lebensmüde Gedanken, mit 12 überlebte ich einen Suizidversuch, mit 15 war ich auf der Beerdigung einer 18-jährigen, die durch Suizid starb. Auch die Jahre danach kenne ich noch suizidale Krisen von mir. Mal laut, mal leise. Mal mitten im Alltag. Mal so überdeckt, dass ich selbst kaum noch merkte, wie viel da eigentlich in mir arbeitete.
Inzwischen bin ich 40 Jahre alt. Und lebe. Kein Existieren, funktionieren, nein, ein Leben, das ich mir aufgebaut habe, was mir gefällt. Ein Leben, welches ich gerne lebe. In diesem Leben sind meine eigenen Suizidgedanken sehr leise geworden und dennoch ist es sehr oft Thema in meinem Alltag. Denn mittlerweile arbeite ich mit Betroffenen und Angehörigen, gebe Workshops zur Suizidprävention, bin Fachbeirätin der Berliner Fachstelle für Suizidprävention.
Somit habe ich mehrere Perspektiven – ich bin selbst betroffen, aber auch Angehörige und Hinterbliebene. Ich habe geliebte Menschen verloren. Ich kenne die Stille nach einem Suizid.
Was mich in all den Jahren begleitet hat, war eine Angst, die viele kennen: Wenn ich Suizidgedanken anspreche, werde ich sofort eingewiesen. Klinik, Verträge, Schweigen statt Sicherheit.
Aber es gibt sie, die Fachpersonen, die nicht in Panik verfallen, wenn man sagt, dass man nicht mehr leben will. Oder kann. Die zuhören. Die mit einem hinschauen, was hinter den Gedanken steckt – statt vorschnell zu reagieren.
Und das ist der Punkt: Suizidprävention beginnt nicht erst dann, wenn jemand „gefährlich“ wirkt. Sie beginnt viel früher. Dann, wenn jemand sagt: „Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll.“ Dann, wenn jemand einfach nur einen Raum braucht, in dem alles sein darf. Wir brauchen mehr Menschen – auch im professionellen Kontext –, die zuhören können, bevor sie handeln. Die aushalten, ohne sofort zu bewerten. Und die Gespräche zulassen, bevor es zu spät ist.
Denn so oft macht genau das den Unterschied. Vom Schweigen zum Zuhören.